2022-09-27 (Alternate Take)

Ein Tag im Jahr ist ein Projekt von Susanne Hösel und Christina Müller. Frei nach Christa Wolf schreiben wir unseren 27. September auf. Mein offizieller Beitrag ist hier; in Wahrheit aber war es natürlich ganz anders.

cn blood, murder, food.


Nick ist im Klavierzimmer, sagt Susie Cave trocken. Steht im Türrahmen, wirkt kleiner als auf den Fotos, das verwitterte Holz trotzt den Jahrhunderten, zunehmend müde. Sie rückt die Brille zurecht, greift den Block fester, Stift und Papier, das Notebook war in der Aufregung abgestürzt. Nick sitzt am Flügel, blaues Jackett, die Haare zurückgestrichen, und notiert Songzeilen.

Als sich ein Sonnenstrahl ins Zimmer verirrt, schrickt er zurück, sie bemerkt ein leichtes Flackern, an den Rändern ihres Sichtfelds. Sich sortieren. Vorstellen. Hinsetzen, erste Frage.


Die Schatten der Bäume, das Rattern der Radsätze, auf den Schotterstrecken. An der Haltestelle, hier schaust Du den Zügen hinterher, den verflossenen Lieben, dem Leben im Allgemeinen. Die Schienen verlieren sich am Horizont, im Nebel, im Herbst.

Morgengesichter, Kaffeeduft. Der Zug legt sich in die Kurve, Blick in Hausfenster, in den Nebenstraßen, dort, wo der Alltag gegen die Bäume brandet. Über die Brücke, Autos hupen sich gegenseitig an. Ein Kind mit transparentem Regenschirm sammelt letzte Sonnenstrahlen ein.


Das Gespräch läuft stockend, immer wieder dreht er sich weg, als müsste er die Antworten erst finden, zwischen den Notenstapeln, Notizen, unfertigen Gedanken. Susie bringt Tee, er schmeckt bitter, erdig. Am Boden ihrer Tasse schwimmt ein Blatt.

Die Schatten an den Wänden scheinen zu tanzen, in der Peripherie, wann immer sie nicht hinschaut. Auch der Flügel hat sich bewegt, aber das kann nicht sein. Nick erzählt von seiner Berliner Zeit, der permanenten Enge, nachts schliessen sich die Mauern, rücken näher, langsam, unmerklich, wie ein schwerer Traum.


Das Piepsen des Weckers schält sich aus der Nacht, sprengt den bunten Traum. Du reibst die Augen, stolperst ins Bad. Zahnbürste, Wasser lassen. Die Welt zerbröckelt, die Zeitungen melden Krieg, Du sitzt in deinen unbeheizten Mauern. Der Typ im Spiegel schaut jeden Tag älter aus. Du ignorierst ihn, so gut es eben geht.

Ein weiterer Arbeitstag, dann noch einer, und irgendwann der süße Tod.


Die Schatten haben sich zurückgezogen. Der Flügel hat den Deckel aufgestellt, langsam, drohend. Während das Instrument ihn verschlingt, erzählt Nick Cave weiter, ruhig, gemessen. Sie hört das Knacken der Knochen, Blut tropft aus dem Korpus, die Saiten reißen, eine nach der anderen. Er spricht von der Bedeutung des Kontrapunkts, als der Deckel sich langsam schließt. Dann Stille.

Susie Cave steht im Türrahmen, ein strahlendes Lächeln, begleitet sie hinaus, das passiere manchmal, morgen sei er wieder ganz der Alte. Draußen scheint die Sonne, die Schafe grasen auf den Hügeln.