milch und zeit

Als Milena ins kalte Tageslicht tritt, die Arme noch blutend, aus dem düsteren Bau an der Georg-Bähr-Straße, an diesem Novembermorgen im Jahr 1939. Als Kafka seinen Morgenkaffee verschüttet, in seiner Villa auf den Klippen in Pacific Palisades, Anzug, Krawatte, ob der Zeitungsnotiz. Zitternd zieht er sein Tablet hervor, neuestes Modell, die Presse scheint desinteressiert, nennt keine Details. Thomas Mann schaut prüfend vom Nebentisch herüber, widmet sich wieder seiner Konversation.

Jaja, furchtbar, wie es nur soweit kommen konnte, haben wir nicht alles getan, sogar Briefe verfasst, nach Washington, London, Paris. Wie weit man eben auch gehen dürfe, im Widerstand, merkt er an, seinen Kaffee umrührend, hatten wir nicht mäßigend eingewirkt, im Rahmen aller bescheidenen Möglichkeiten. Thomas Mann schenkt sich Kaffee nach, tritt an die Scheiben, blickt auf den blauen Pazifik. Er entschließt sich, eine Passage darüber in seinen Felix Krull einzubauen, später.

.

Mein Gott, wird Milena später schreiben, warum haben wir alle nach dem Krieg gelebt, wenn er wieder möglich ist? Freigesprochen und doch verschleppt, unter Vorwand. Keine ungewöhnliche weibliche Biographie, damals. Wie damals, mit zwanzig, als ihr Vater – Adressat ihrer letzten Briefe – sie in einer psychiatrischen Anstalt verschwinden ließ, einer unerwünschten Liebschaft wegen.

Blick auf die Guillotine im Hof, Prügelbock und Phenolspritzen. Die Dokumente im Lampenschirm, das Kind in der Welt. [Ich hoffe, sie glauben nicht, dass wir alle böse Menschen waren, wird eine ihrer Aufseherinnen später zu Protokoll geben.] Es wird ihr letztes, unvollständiges Buchmanuskript werden, sie stirbt im Lager Ravensbrück, ihre Seiten bleiben verloren.

.

Thomas Mann blickt sich um. Vor den Fenstern der winterliche Pazifik. Drinnen geschäftiges Treiben. Schwarzenbach erzählt über Kaffee und Spiegelei hinweg vom fernen Persien, hellen und dunklen Tagen in Kabul. Kafkas Frühstück steht unangetastet, der Stuhl umgestoßen, sein Mantel noch über der Lehne.

.

Berlin, September 2018. Im Regal, verstaubt, eine dekorative Ausgabe von Thomas Manns Gesamtwerk, ungelesen. In einer Tasse Kaffee zerlaufen Milchschlieren. Horst Seehofer blickt aus dem Fenster, zufrieden. Von hier aus sieht man keine Innenhöfe, keine Baracken, keinen Pazifik.

.

geschrieben für projekt *.txt. referenzen | 12, 3, 45

anm. | milena jesenská, journalistin, widerstandskämpferin, übersetzerin und geliebte kafkas, stirbt 1944 im kz ravensbrück. thomas mann kommt tatsächlich erst 1942 in pacific palisades an. annemarie schwarzenbach trifft die manns 1940 in new york, folgenschwer, aber das ist eine andere geschichte.