#auflösung

Als Anne vom Regen wach wurde, war der Morgen noch ein fahler Streif am Horizont. Vor der Holzhütte hatte sich das Wasser weit zurückgezogen, vielleicht würde es erst nächste Woche wiederkommen, oder in hundert Jahren. Die Boote träumten ihre radioaktiven Träume auf dem trockenen Grund. Sie fuhr über die Linien seines schlafenden Körpers, sog den Duft ein, betrachtete sein Haar im schalen Zwielicht. Mit einer schläfrigen Bewegung zog er sie auf sich. Küsse im Morgengrauen.

Anne wacht auf. Im staubigen Hotelzimmer bricht sich das Licht. Draußen fahlgelber Tag, unentschlossen. Sie putzt sich die Zähne, zieht sich aus, aus der Dusche kommt nur Sand. Frisur, das geblümte Kleid, Sandalen. Im Frühstückssaal ist sie allein.

Die Schatten der Stadt laufen schneller als sie. Durch den Salzwind, an der Strandpromenade vorbei, aus der alten Bialetti an der Bar dampft große Vergangenheit. Am flirrenden Horizont Kampfschiffe, Ekranoplans, versunkene Plattenbauten. Die Stadt steht dem operativen Zugriff von allen Seiten offen, Palmen stehen entlang der Ruinen Spalier wie verworfene Gedanken, hierher kommt niemand mehr. Sie betritt den alten Jugendstilbau.

Da ist ein Fauteuil. Goldgerahmte Aquarellminiaturen. Ein Stapel Bücher, Kaffee aus Meißner Porzellan. Aus den wandhohen Bücherregalen treten livrierte Dienstboten. Sie schlägt die Haare übereinander und streicht Beine aus dem Gesicht. Ihr Gegenüber: bebrillte Aufmerksamkeit, encore un café, s’il vous plaît, merci bien.

Und die Feinstruktur aller Gedanken ist Sprache. Dites, que pensez-vous, möglicherweise existiert gar keine Geschichte, jeder lineare Fortgang ein Trugbild, und die Zeit läuft uns in Schlaufen davon, sie schleift sich zurück in sich selbst, jedes Ende transportiert uns an den Anfang. Überhaupt, Enden. Sie haben alle Gewalt über uns, jede Geschichte strebt ihnen entgegen, alle bekannten Topoi: das Meer (imaginär, Sonnenschirme). Die Stadt (symbolisch). Die schrecklichen, unbereisten Innenwelten (real). Und mittendrin wir.

Anne blickt sich um. Der Kaffee schimmert sanft im letzten Abendlicht. Im Spiegeltest durchgefallen, denkt sie leise, aus Mangel an Interesse.

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